Omar Mohamad vergleicht für lala.ruhr die StadtLandschaft von Aleppo mit der von Mülheim an der Ruhr
Neue Heimat?
Jahr 2015. Der Wecker klingelt um 7 Uhr morgens. Draußen ist es noch dunkel. Ich möchte aus dem Bett raus, aber mein Verstand begreift nicht, dass der neue Tag begonnen hat. Und ich frage mich, hat der Tag schon begonnen? Vielleicht träume ich noch? Warum ist es immer noch dunkel. Ich bin daran gewohnt ein wenig Helligkeit wahrzunehmen, um den Tag zu beginnen. Irgendetwas in mir scheint nicht begreifen zu wollen. Morgens Licht zu haben, das ist für mich ein Gefühl von Heimat. Meine Heimat ist jedoch 2.936 km entfernt. Tiefe Einsamkeit überkommt mich in der morgendlichen Stille. In der Dunkelheit ist man immer nur allein einsam. Es ist mein erster Winter in Deutschland. Ich komme aus Syrien. Dort geht im Winter die Sonne um 6:30 Uhr auf. Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachen die Menschen aus ihrer Traumwelt und beginnen den neuen Tag. Aber hier in Deutschland klingelt ein Wecker. Ich muss aus dem Bett und meinen Verpflichtungen nachgehen. Ich stehe auf und bereite mich vor. Ich ziehe mich warm an, nehme meine Tasche und verlasse die Turnhalle, in der ich mit vielen anderen untergebracht bin. An der Bushaltestelle warte ich nun auf den Bus. Es ist kalt und dunkel. Ich steige in den Bus ein und es ist immer noch dunkel. Ich frage mich: ist das ein Traum oder die Wirklichkeit? Träume ich oder wird es nochmal hell? Sollte es dunkel bleiben, dann träume ich. Ich schaue aus dem Fenster und betrachte die Häuser. Sie sehen aus wie die Häuser meiner Kindheit. Häuser die ich als Kind in Cartoons gesehen habe. Für mich sehen hier alle Häuser gleich aus. Ich schließe meine Augen und erinnere mich an die Häuserfassaden meiner Heimat. Ich öffne meine Augen. Ich bin endlich angekommen. Ich steige aus dem Bus und überquere die Straße. Bin ich das denn wirklich, angekommen? Wann ist ein Mensch in Deutschland eigentlich angekommen? Auf meinem Weg zur Sprachschule laufe ich durch einen Park und bleibe plötzlich stehen. Ich betrachte den Rasen. Das tiefe Grün fasziniert mich und hält mich für einen Moment lang fest. So ein sattes Grün kannte ich bisher nicht. Niemand der aus Syrien kommt kennt so ein Grün. Das Grün meiner Heimat ist ein anderes Grün und so frage ich mich, ob ich jemals hier ankommen werde. Es ist jetzt beinahe hell und es steht nun also fest, alles hier ist kein Traum!
Alte Heimat!
Aleppo ist eine sehr alte Stadt, die bereits drei Mal in Kriegen zerstört und wieder errichtet wurde. Nun ist sie wieder einmal zerstört. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist sehr groß. Hier findet man eine bunte Vielfalt an Kulturen, ethnischen Herkünften und Religionen. Araber, Kurden, Aramäer, Armenier, Assyrer, Tscherkessen und Turkmenen. Viele dieser Menschen sind Nachfahren von Vertriebenen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Aleppo ist zu ihrer Heimat geworden. Die Menschen leben dort dicht zusammen und alle 100 Meter ändert sich das Stadtbild vollständig. In jedem Haus leben oftmals wesentlich mehr Familien als in Deutschland. Die Häuser in Aleppo haben grundsätzlich keine Schrägdächer. Man kann somit über große Teile der Stadt blicken. Jede Wohnung hat einen Balkon, der groß genug ist für die ganze Familie. Es ist für uns selbstverständlich, morgens zusammen einen Kaffee auf dem mit zahlreichen Pflanzen beschmückten Balkon zu genießen. Es gibt hinsichtlich der ethnischen Herkunft sehr vermischte Straßenzüge und andererseits auch Quartiere mit weniger bis gar keiner Vermischung. Jedenfalls ist die kulturelle Identität der Stadt geprägt durch Vielfalt und Toleranz. Was ich an Aleppo vermisse, ist die lebendige Vielfalt der pulsierenden Metropole, die vielen Gerüche, das gute Essen und natürlich meine Familie und Freunde. Aleppo ist nicht nur die größte Industriestadt, sondern auch die Kulturhauptstadt des Landes. Die Stadt hat sich in der Moderne schnell entwickelt, ohne auf die Umwelt zu achten. Es gab Nachlässigkeiten und Versäumnisse. Wohngebiete und Industriegebiete sind dadurch vermischt. Erst spät kam man auf die Idee ein Industriegebiet außerhalb der Stadt einzurichten, um die Lebensqualität der StadtbewohnerInnen zu erhöhen. Dieses liegt nun einige wenige Kilometer entfernt im nordöstlichen Teil der Stadt. Ich habe damals bei der Stadtentwicklung in Aleppo gearbeitet. In der geschichtlichen Entwicklung der Stadt hatte sich die Industrie direkt im Stadtgebiet ausgebreitet. Eine große Herausforderung meiner Arbeit war es, die angesiedelten Unternehmen davon zu überzeugen das neu entstandene Industriegebiet zu nutzen.
Neue Ideen für meine neue Heimat
Jahr 2021. Ich steige aus dem Bus. Endlich angekommen in Deutschland. Ich fühle mich frei! Keine Angst mehr, keine Sorgen! Ich fühle mich frei, meine Meinung zu äußern ohne zensiert, verfolgt oder gar gefoltert zu werden. Für mich ist die deutsche Demokratie wie die Luft zum Atmen. Auch an die winterliche Dunkelheit habe ich mich gewöhnt und das satte Grün des Rasens ist nun das Grün meiner neuen Heimat! Doch wenn ich so durch die Straßen laufe, frage ich mich, warum man nicht mal eine autofreie Innenstadt einrichten kann oder zu mindestens einen autofreien Tag. Diese Straßen erinnern mich an die Straßen Aleppos, die auch nicht besonders sauber sind. Aleppos Straßenbild ist nicht grüner als in Mülheim, allerdings gibt es dort sehr große Parks. Am Bahnhof und der Mülheimer Innenstadt sind viel Betonbauten zu sehen. Die Ruhr als grüne Lunge rettet das Stadtbild. An einem Samstag im Monat trafen sich damals Einwohner und Nichteinwohner aus selbstständiger Initiative heraus, um gemeinsam die Straßen zu säubern. Anschließend wurde gemeinsam gegessen, getrunken und gefeiert. Auf diese Weise kamen die Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft miteinander in Kontakt und es entstanden auch Freundschaften. So etwas hier in Mülheim als interkulturelle Initiative zu etablieren wäre großartig. Ich fahre weiter mit dem Metropolrad zu meiner neuen Arbeit. Nach der absolvierten Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann am Ringlokschuppen, bin ich nun Mitarbeiter am Theater an der Ruhr in Mülheim an der Ruhr. Die Straße ist gut, aber es gibt immer noch Löcher und die Bordsteine machen es auch nicht einfacher. Viele Autofahrer nehmen keine Rücksicht und beanspruchen die Straße für sich. Ein flächendeckender Ausbau der Fahrradwege könnte vorangetrieben werden. Es ist schwierig für mein Fahrrad einen sicheren Abstellplatz zu finden, viele Stellplätze sind mit alten, vergessenen Rädern belegt. Ich kann es immer noch nicht fassen. Vor einiger Zeit wurde mir mein Fahrrad gestohlen, und zwar direkt vor dem Gebäude des Ordnungsamtes. Ein Abstellplatz mit einer für den Dieb unüberwindbaren Sicherheitstechnik. Das wäre es! Ich fahre weiter eine kurze Passage an der wunderschönen Ruhr entlang. Wie ruhig und friedlich doch alles hier ist. Zum Traum fehlt nur noch mediterranes Wetter und kristallklares Wasser!
Omar Mohamad (*1989) ist an interkulturellen Projekten und einem Miteinander statt Nebeneinander interessiert. Er studierte in Syrien Betriebswirtschaftslehre und machte in Deutschland eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann. Seit 2016 engagiert er sich ehrenamtlich in diversen Projekten im Ruhrgebiet, unter anderem bei der “Freien Universität Oberhausen”, einem soziokulturellen Bildungsprojekt. Außerdem ist er Mitglied der Grün-Bunte-Liste für den Integrationsrat der Stadt Mülheim. Seit September 2020 ist er für PR und Audience Develpment im Collective Ma’louba am Theater an der Ruhr zuständig.